Gabriel Kießling und Dr. Ute Buth im Gespräch

... oder nur sehr leise und unter vorgehaltener Hand. Gleichzeitig sprechen Werbung, Filme, Serien und Kurzvideos in sozialen Medien ständig von Sex. Wie Kinder und Jugendliche mit der Allgegenwart von Sexualität in ihrer Sprache umgehen und welche Haltung Eltern, pädagogische Fachpersonen, Leitungsverantwortliche und Gemeinden dazu einnehmen können, darüber tauschen sich Dr. Ute Buth (Frauenärztin und Buchautorin von Aufklärungsbüchern) und Gabriel Kießling (Religions- und Gemeindepädagoge) aus. Beide sind Fachreferenten des Weißen Kreuzes.

Zeitschrift - SEXUALITÄT UND SPRACHE - NR. 92 - Weisses Kreuz
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Sexualität und Sprache: Wie Worte wirken – mit Worten wirken

Gabriel Kießling (GK): Vor 3 Jahren predigte ich vor 230 Konfirmanden und Konfirmandinnen. Am Ende der Predigt fiel das Wort »Pornografie«. Ich merkte sofort, wie das letzte Drittel im Raum unruhig wurde und plötzlich viel zu lachen hatte. Die Reaktion hat mich überrascht und überfordert. Dieses Wort schien etwas getriggert zu haben. Warum reagieren die Jugendlichen so? Pornografie ist ja kein Thema, das in ihrem Leben gar nicht vorkommt.

Ute Buth (UB): Das klingt für mich nach einer Form von Irritation, die sie mit Lachen überspielt haben. Pornografie ist ein großes Thema. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie etwas darüber wissen, vielleicht sogar schon selbst Kontakt hatten, ist recht hoch. Jetzt fällt das Wort plötzlich im Zusammenhang von Kirche, der man so eine Sprachfähigkeit zu diesem Thema womöglich gar nicht zutraut. Und kommt einem damit sehr nah. Dieses überraschte Gefühl lässt sich vielleicht am ehesten mit Humor überspielen.

GK: Also eine völlig normale Reaktion?

Warum reagieren die Jugendlichen so? Pornografie ist ja kein Thema, das in ihrem Leben gar nicht vorkommt. Foto Sam Balye

UB: Ich beobachte, dass viele Kinder von Hause aus keine gute Sprache zum Thema Sexualität lernen. Aus meiner Sicht ist eine gute Aufklärung ein Lebensstil und kein Termin. Kinder sind gut dran, wenn sie im Elternhaus schon lernen, dass man über das Thema Sex in einer guten Art und Weise reden kann. Wenn Eltern – aus oft wirklich gutem Willen – ihre Kinder vor dem Thema schützen wollen, dann wählen manche zumindest vorübergehend das Modell Glasglocke: Möglichst das Kind lange von dem Thema fernhalten, bis es »älter ist« und/oder die Schule die Aufgabe übernimmt. Das allerdings funktioniert aus meiner Sicht nicht wirklich. In der Schule gibt es die Aufklärungsprojekte regulär in der dritten oder vierten Klasse. Die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder bis dahin schon längst von anderen Seiten »aufgeklärt« wurden, ist riesengroß: von anderen Kindern auf dem Schulhof oder Schulweg, im Freizeitbereich, über das Internet usw. Für das Modell Glasglocke würde das streng genommen bedeuten: keine Außenkontakte für das Kind und es daheim einsperren. Das geht nicht. Was auch deutlich macht, dass diese Strategie nicht zu Ende gedacht ist.

Wir leben in einer sexualisierten Welt. Wir können nicht verhindern, dass Informationen Kinder erreichen. Doch wir können sehr wohl gute Grundlagen legen und altersgemäß ins Gespräch kommen. Das Schweigen über Sexualität spricht übrigens auch eine laute und deutliche, aber eher destruktive Sprache: Darüber spricht man nicht! Das kann übrigens auch mit den Jugendlichen passiert sein, von denen du gerade erzähltest. Aber nochmal: Ich bin unbedingt dafür, dass Eltern um die Wichtigkeit altersgemäßer Sprachfähigkeit für Kinder wissen.

GK: Wie sieht eine altersgemäße Sprache in der Aufklärung aus?

UB: Wenn ich Aufklärungsprojekte an Grundschulen oder Seminare für Eltern und Pädagogen anbiete, dann verwende ich keine verniedlichenden Begriffe. Kinder stehen sonst in der Gefahr, nicht verstanden zu werden. Solche Begriffe können familieninterne Prägungen haben oder sind so schwammig, dass ein Kind bei einem Übergriff gar nicht sagen kann, was passiert ist. Ich ermutige, die richtigen Begriffe zu verwenden und sich gleichzeitig klarzumachen, dass sie für kleine Kinder noch total abstrakt sind. Deshalb baue ich, wo immer möglich, eine Brücke in die Welt der Kinder. In meinem Aufklärungsbilderbuch »Erklärt mir mal, wo komm ich her?« erkläre ich zum Beispiel: »Jede Frau hat ein Zimmer im Bauch, das Zimmer Gebärmutter. Dort wächst das Baby heran. Und wenn die Zeit dann so weit ist, dass das Baby herauskommt, wird es durch den Gang Scheide geboren.« Unter Gang und Zimmer können sich Kinder etwas vorstellen und haben gleichzeitig die richtigen Begriffe »Gebärmutter« und »Scheide« gelernt.

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Erstinformationen haften viel stärker als Folgeinformationen.

GK: Wie ändert sich das dann mit dem Alter?

UB: Natürlich möchten gerade heranwachsende Teenager nicht wie kleine Kinder behandelt werden. Es geht im Unterricht zunächst darum, mit ihnen eine gemeinsame Sprache zu finden: Welche Begriffe kennen sie? Was klingt wertschätzend? Was klingt abwertend? Welche Worte nutzen wir, damit jeder mitreden kann? Gleichzeitig wissen wir nie, welche Grundlagen zuhause gelegt wurden. Eventuell setzt man auch zu viel Wissen voraus. Darum ist es wichtig, die Basics auf jeden Fall auch zu benennen, damit Jugendliche ihr Halbwissen daran abgleichen können und nicht in Verlegenheit geraten oder inhaltlich abgehängt werden.

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GK: Du beschreibst gerade das Phänomen der Unterversorgung: Es gibt keine oder nur komische Begriffe. Gibt es dann auch das Phänomen der Überversorgung, wo ein 6-Jähriger von seinen Eltern schon über Sex-Praktiken aufgeklärt wurde?

UB: Oder von Filmen. Oder anderen Kindern. Im Kindergarten sagt ein 5-Jähriger zu seinem Kumpel: »Ich weiß jetzt, woher die Babys kommen. Der Mann steckt seinen Penis in die Scheide der Frau oder in den Mund.« Und alle fragen sich: »Wo hat er diese Information her?« Ja, es gibt tatsächlich Elternhäuser, da schauen Eltern auch am Tag Pornos und lassen die Kinder mit schauen, vielleicht noch nicht mal ahnend, dass dies ein Straftatbestand ist. Viele Eltern bremsen eher und sagen: »Meine Kinder sind noch zu klein.«, und wehren deren Fragen ab. Doch Fragen verschwinden nicht, indem man sie totschweigt.

Viele Eltern bremsen eher und sagen: »Meine Kinder sind noch zu klein.«, und wehren deren Fragen ab. Doch Fragen verschwinden nicht, indem man sie totschweigt. Foto von saeed karimi

Ob Überforderung etwa durch Pornos oder Unterforderung durch Schweigen und Abwehren: Erstinformationen haften viel stärker als Folgeinformationen. Ohne gutes Grundlagenwissen können Pornofilme oder andere merkwürdige Informationen über Sex nicht eingeordnet werden und wirken sehr stark.

Um eine gute Sprachfähigkeit zu entwickeln, habe ich »Sexualaufklärung – Aufgabe und Chance« entwickelt. Eltern sollten sich klarmachen, dass sie in der Aufklärung keine Hoheit haben. Meist blicken sie selbst auf keine gute Aufklärungserfahrung zurück. Eltern können dann befähigt und unterstützt werden, wann und wie sie mit ihren Kindern ins Gespräch kommen können. Wichtig ist dabei die Reflexion: Was hat meine Lerngeschichte geprägt? Was haben meine Herkunftsfamilie, mein Glaube, meine Kultur, aus der ich komme, mit meinem Verständnis von Sexualität gemacht? Was denke ich über Sex? Welche Facetten sind für mich wichtig und welche habe ich noch gar nicht erfasst?

Dann können sie überlegen, was von ihrem Wissen sie überhaupt in der Aufklärung ihrer Kinder bewusst weitergeben wollen und wieso.

GK: Das heißt: Je mehr ich mich reflektiere, umso besser kann ich in guter Weise Sexualthemen sprachlich nach außen befördern. Gute Aufklärung ist für Kinder dann wie ein Referenzpunkt, an dem sie Folgeinformationen vergleichen können. Und wenn sie verwirrt sind, wissen sie: Ich kann zu meinen Eltern gehen und sie fragen, denn ich weiß, dort gibt es einen Raum dafür. Allein, weil die Eltern sprechen, eröffnen sie ihren Kindern diesen Raum.

Das erfordert Mut – besonders, wenn ich erkenne: Da habe ich etwas verpasst, ich weiß gar nicht, was meine Tochter schon über Sex weiß und was sie darüber denkt. Wir Erwachsenen tragen die Verantwortung, hier initiativ zu sein und diesen Sprach-Raum anzubieten.

Wir Erwachsenen tragen die Verantwortung, hier initiativ zu sein und diesen Sprach-Raum anzubieten. Foto unsplash+

UB: Und die Hemmschwelle, das erstmals zu tun, wird mit dem Alter der Kinder nicht kleiner. Manche schrecken auch davor zurück, weil sie von der Verwendung von sexuellen Begriffen in der Alltagssprache der Kinder und Jugendlichen irritiert sind.

GK: Sexualisierte Sprache ist ja nicht nur Ausdruck von Unwissenheit oder Unsicherheit und schlechter oder ungenügender Aufklärung durch Eltern, sondern wird auch ganz bewusst eingesetzt, um sich gegen die Erwachsenenwelt abzugrenzen. Je anstößiger oder unsagbarer etwas gilt, umso häufiger wird es unter Jugendlichen gebraucht. Und je vehementer Erwachsene dagegen ansprechen, umso mehr erfüllt es seine Funktion: Ihr habt uns nichts zu sagen. Das ist unsere Welt, nicht eure. Sprachfähigkeit unter Jugendlichen zum Thema Sexualität zu fördern, gleicht Vielen als olympische Disziplin, die den Profis überlassen wird.

UB: Ja, und gleichzeitig hängt es doch aber auch von deiner Rolle ab. Sagt mir da einer etwas, den ich als abgrenzungswürdig empfinde? Es ist ein riesiger Unterschied, ob du als Jugendreferent oder als Vater auftrittst – und als wie sprachfähig du eingeschätzt wirst. Als ich mit einer 9. Klasse über die Auswirkungen von Pornografie sprach, passierte etwas ganz Spannendes. In der Pause kam einer von den coolen Jungs direkt zu mir und sagte: »Das würde ich jetzt einfach gerne nochmal genauer wissen.« Und dann fragte er nach. Und man merkte, wie es in ihm arbeitete und er plötzlich eine Möglichkeit hatte, Pornos nochmal anders einzuordnen. In der Mutterrolle wäre dieses Gespräch viel schwieriger oder vielleicht bei mangelnder Sprachebene sogar unmöglich gewesen.

GK: Zur Rolle muss dann aber auch das passende Verhalten kommen. Jugendliche merken schnell, ob sie mir als Person wichtig sind oder nur ihr Verhalten. Wir saßen einmal im Jugendkreis und es fiel immer wieder das Wort »Wichser« als vermeintlich lustige Bezeichnung füreinander. Ich kann das verbieten und sanktionieren (Verhalten steuern) oder nachfragen: »Empfindet ihr das als wertschätzenden Umgang miteinander? Ist das für euch eine gute Weise, um miteinander zu sprechen?« (Interesse an der Person)

UB: Genau. Wenn Jugendliche (Schimpf-)Worte benutzen, die andere abwerten, dann ist das ja nicht schön. Aber wenn du ihnen das so zurückmeldest, dass sie dabei selbst abgewertet sind, ist nichts gewonnen. An der Stelle finde ich auch gut zu fragen: Was drücken wir eigentlich durch Sprache aus?

An der Stelle finde ich auch gut zu fragen: Was drücken wir eigentlich durch Sprache aus? Foto unsplash+

GK: Absolut. Weil Übergriffe auch immer sprachlich beginnen. Wenn ich als Kind oder Jugendlicher gewohnt bin, dass ich halt eine »Bitch« bin und solche sexualisierten Worte in mir gar nichts mehr auslösen, komme ich in ein gefährliches Fahrwasser. Wo ich sprachlich desensibilisiert wurde, fehlen mir die Warnsysteme für andere Übergriffe. Wie siehst du das?

UB: Ja, natürlich. Weil Täter ja auch wahrnehmen, wie jemand spricht oder wie sich jemand abgrenzt, wenn man eine krasse, sexualisierte Sprache verwendet. Das wird bewusst im Rahmen der Anbahnung sexualisierter Gewalt verwendet.

GK: Wenn Eltern den Aufklärungsbedarf ihrer Kinder eher unterschätzen und wenn Sprache das zeigt, was im Inneren schon vorherrscht, bedeutet das doch: Die sexualisierte Sprache meines Kindes verweist auf ein hohes Interesse an Informationen über erwachsene Sexualität. Dann weiß ich: Da müssen wir mal ran.

UB: Ein Kind, das nicht fragt, ist eine Blackbox, von der du gar nicht weißt, ob schon irgendwelche sexuellen Themen da drin gelandet sind. Vielleicht denkt das Kind: »Das kann ich Mama und Papa im Leben nicht sagen! Weil sie dann bestimmt auch wissen wollen, woher ich das weiß, und dann müsste ich zugeben, was ich mit meinen Freunden mache und schaue.« Und die Eltern denken von außen: Der ist doch ein Erstklässler, der hat doch mit Sex noch lange nichts zu tun.

Es ist so wichtig, Kinder mit einer guten Sprache zu befähigen. In meinem neuen Buch über Pubertät und Schwangerschaft »#Respektvoll leben – eine Sommercamp-Geschichte – mit Pubertätsguide« erleben Kinder innerhalb dieser Handlung u. a. auch Erwachsene als sprachfähig dazu. Mir war wichtig, dass es Rollenmodelle von Menschen gibt, die ansprechbar sind. Viele Kinder erfahren das leider zu Hause noch nicht so. Mein Herz schlägt dafür, noch mehr Eltern dafür zu gewinnen.

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GK: Wie kann ich das als Verantwortliche/r in Schule oder Gemeinde tun?

UB: Wenn man Eltern sagt, sie »müssen« ihr Kind aufklären, dann fühlen sie sich oft fremdbestimmt und dass man ihr Hoheitsgebiet verletzt. Dann kann schnell eine Wand hochklappen und es kommt zurück: »Sie haben mir gar nichts zu sagen.« Das stimmt auch. Doch wenn die Eltern verstehen, was Herkunftsfamilie, Glaube, Kultur, … mit Lerngeschichten machen, und wenn sie verstehen, wer und was alles Kinder aufklärt, dann sagen die gleichen Eltern oft von selbst: »Oh ich glaube, wir müssen etwas tun. Was kann ich denn tun?« Auf die Motivation, dass Kinder in diesem Bereich gut aufwachsen, folgt oft der Wille, etwas zu verändern. Dann benötigen sie Bausteine, die ihnen fehlen, um mit Wissen und Mut zu starten.

GK: Das heißt: Angst vor einer schlechten Entwicklung der Kinder im Bereich Sexualität ist oft der Motivator für Eltern. Aber sie ist eine negative Emotion. Viel stärker wirken ja die positiven. Gerade für Gemeinde, aber auch für Familien wünsche ich mir viel weniger Warnung vor den möglichen Verfehlungen, sondern viel mehr Werbung und Begeisterung für Gottes geniale Idee von Sexualität. Wir sollten viel mehr über die Schönheit von Sexualität sprechen, als über deren Gefahren. Dann könnten Eltern mehr und mehr motiviert sein, die Sexualität ihres Kindes wie einen Garten auf gute Weise vorzubereiten. Dann besteht die Chance, dass mein Kind nicht mit 30 zu dir in die Beratung gehen muss.

Gabriel Kießling ist Religions- und Gemeindepädagoge, Fach- und Jugendreferent beim Weißen Kreuz, Vater von drei Kindern und hält Vorträge in Jugendgruppen.

Dr. Ute Buth ist Weißes-Kreuz-Fachberaterin und Referentin, Frauenärztin, Sexualberaterin nach DGfS (Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung) und Mutter von zwei erwachsenen Kindern. Die Buchautorin u. a. von »Erklärt mir mal, wo komm ich her?« unterrichtet Sexualkundeprojekte an unterschiedlichen Schulformen.

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