Seit über vierzig Jahren ist der Ratgeber »Positive Discipline« der Goldstandard für Erwachsene, die sich um Kinder kümmern. Die renommierte Psychologin, Pädagogin und Mutter von sieben Kindern Dr. Jane Nelsen zeigt dir, wie jedes Kind – vom Kleinkind bis zum Teenager – wertvolle Lebenskompetenzen wie Selbstregulierung, Verantwortung, Empathie und kreative Zusammenarbeit lernen kann.

Basierend auf dem Prinzip von gegenseitigem Respekt und der ganzheitlichen Psychologie von Dr. Alfred Adler und gestützt auf die neuesten Erkenntnisse der Hirnforschung ist Positive Discipline eine Fundgrube an überzeugenden und praktischen Werkzeugen, die deinen Kindern helfen, selbstbewusster und kompetenter zu handeln und sich verbundener zu fühlen.

Ich selbst habe das Buch vor einigen Jahren gemeinsam mit unserem Hauskreis in der Gemeinde durchgearbeitet und im Rahmen meiner Seelsorgeausbildung bei ICL die dahinterliegenden Prinzipien von Adler und Dreikurs besser kennengelernt. Ihre Ansätze haben mich tief geprägt – sowohl in meiner eigenen Familie als auch in der Arbeit mit Jugendlichen. Umso mehr freue ich mich, diesen Artikel heute in Zusammenarbeit mit dem Positive Discipline Team Deutschland präsentieren zu dürfen.

Viel Spaß bei der Lektüre!
Andy Fronius vom MrJugendarbeit Team

Präsentiert von Adonia
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Bei diesem Artikel handelt es sich um einen Auszug aus Kapitel 1 Der positive Ansatz, der deutschen Übersetzung des Buches »Positive Discipline« von Dr. Jane Nelsen. Verwendet mit Genehmigung des Adonia Verlags.

»Wenn wir einem Kind helfen wollen, seine Richtung zu ändern, müssen wir verstehen, was es bewegt.« — Dr. Rudolf Dreikurs

Vorsicht vor dem, was funktioniert

Viele Menschen sind überzeugt, dass Strenge und Bestrafungen funktionieren. Ich auch. Ich würde niemals sagen, dass Strafe nicht funktioniert. Strafe funktioniert in dem Sinne, dass sie Fehlverhalten normalerweise sofort stoppt. Oft werden wir von kurzfristigen Erfolgen geblendet. Aber was sind die Langzeitfolgen? Manchmal müssen wir Vorsicht walten lassen vor dem, was funktioniert, wenn die Langzeitfolgen negativ sind. Die Langzeitfolgen von Bestrafungen sind, dass die Kinder meist eine oder alle der vier Folgen von Strafe zeigen:

Die vier Folgen von Strafe

  1. Verbitterung – »Das ist unfair. Ich kann Erwachsenen nicht trauen.«
  2. Rache – »Jetzt gewinnen sie, aber bald werde ich es ihnen heimzahlen.«
  3. Rebellion – »Ich mache genau das Gegenteil, als Beweis dafür, dass ich nicht tun muss, was sie sagen.«
  4. Rückzug:
    1. Heimlichtuerei – »Nächstes Mal werde ich nicht erwischt.«
    2. Geringes Selbstvertrauen – »Ich bin ein schlechter Mensch.«

Kinder sind sich in der Regel der Entscheidungen, die sie als Reaktion auf eine Bestrafung treffen, nicht bewusst. Allerdings fußt ihr zukünftiges Verhalten auf diesen unterbewussten Entscheidungen. Ein Beispiel: Ein Kind könnte beschließen »Ich bin ein schlechter Mensch« und sich dementsprechend verhalten. Ein anderes Kind, das denselben Schluss gezogen hat, möchte es danach immer allen recht machen, um die Liebe zu empfangen, die es meint, gar nicht verdient zu haben. Daher müssen Erwachsene die Langzeitfolgen von Bestrafungen stärker im Blick behalten, anstatt sich von den kurzfristigen Erfolgen blenden zu lassen.

Woher kommt eigentlich die fragwürdige Idee, dass sich Kinder erst einmal schlechter fühlen müssen, bevor sie besser handeln können?

Erinnere dich an eine Situation, in der du dich gedemütigt oder ungerecht behandelt gefühlt hast. Wolltest du da kooperieren oder etwas besser machen? Nimm dir die Zeit und schließ die Augen und erinnere dich an eine Gelegenheit in letzter Zeit (oder in deiner Kindheit), bei der dich jemand zu besserem Verhalten motivieren wollte, indem er dich schlechtgemacht hat. Erinnere dich genau an das, was passiert ist. Durchleb die alten Gefühle noch einmal. Werde dir dessen bewusst, was du über dich und über die andere Person gedacht und welche Entscheidungen du für die Zukunft getroffen hast (auch wenn du Letzteres damals wahrscheinlich nicht bewusst getan hast). Wolltest du es beim nächsten Mal besser machen? Falls ja, fühlte sich dieser Entschluss gut an oder war er eine Folge von negativen Gedanken über dich oder die andere Person? Wolltest du aufgeben oder es vertuschen, um in Zukunft nicht mehr gedemütigt zu werden? Oder wolltest du es der anderen Person recht machen und einen großen Teil von dir aufgeben, um ihr zu gefallen? Kinder entwickeln keine positiven Charaktereigenschaften aus Gefühlen und unterbewussten Entscheidungen heraus, die ihren Ursprung in Bestrafungen haben.

Eltern und Lehrkräfte, die weder übertriebene Kontrolle noch Nachgiebigkeit leben wollen, aber keine Alternativen kennen, wechseln häufig zwischen diesen zwei ineffektiven Möglichkeiten hin und her. Sie probieren es mit übertriebener Strenge, bis sie sich selbst nicht mehr im Spiegel anschauen können. Dann wechseln sie zum Antiautoritären, bis sie nicht mehr ertragen, wie verwöhnt und fordernd die Kinder werden – also gehen sie zurück zur Kontrolle.

Übertriebene Strenge scheint bei Kindern zu funktionieren, aber was ist der Preis dafür? Studien haben ergeben, dass Kinder, die sehr oft bestraft werden, entweder rebellisch oder ängstlich-unterwürfig werden. Positive Discipline verzichtet auf Schuldzuweisungen, Beschämungen und Schmerz (sowohl körperlich als auch emotional). Auch Nachgiebigkeit ist sowohl für Erwachsene als auch für Kinder demütigend, denn sie fördert ungesunde Ko-Abhängigkeiten statt Eigenständigkeit und Kooperation. Das Ziel von Positive Discipline ist, sowohl positive Langzeiteffekte in der Zukunft als auch Verantwortungsbewusstsein und Kooperation in der Gegenwart zu generieren.

Da viele Erwachsene und Lehrkräfte glauben, dass die einzige Alternative zu übertriebener Kontrolle und Strenge die absolute Nachgiebigkeit ist, werden wir hier den Begriff der Disziplin definieren, da er im englischen Namen des Konzepts vorkommt. Disziplin wird häufig falsch verwendet. Viele Menschen setzen sie mit Bestrafung gleich. Das Wort stammt vom lat. disciplīna, einer Ableitung von lat. discipulus ›Schüler, Lehrling‹ und bezeichnet ›Schule, Unterricht, Wissenschaft‹ und außerdem ›das Beherrschen des eigenen Willens, der eigenen Gefühle und Neigungen, um etwas zu erreichen‹. Kinder und Schüler werden dies aber nur erreichen können, wenn ihre Motivation von einem internen ›locus of control‹ ausgeht. Auf Deutsch wird dies auch als Kontrollüberzeugung bezeichnet: Die Kinder müssen lernen können, dass sie selbst eine Situation unter Kontrolle haben, niemand sonst. Sowohl Bestrafung als auch Belohnung sind Formen des externen ›locus of control‹, wobei das Kind in Abhängigkeit gerät.

Keine Strenge, keine Nachgiebigkeit – aber was dann?

Positive Discipline ist ein Erziehungsansatz, der übertriebene Kontrolle und Nachgiebigkeit ausschließt. Worin unterscheidet er sich von anderen Ansätzen? Ein Merkmal ist, dass hierbei weder Erwachsene noch Kinder gedemütigt werden.

Positive Discipline basiert auf gegenseitigem Respekt und Kooperation. Positive Discipline verbindet Freundlichkeit und Bestimmtheit und lehrt auf Basis von internaler Kontrollüberzeugung lebenswichtige Kompetenzen.

Werden Kinder übertrieben stark kontrolliert, sind sie abhängig von einer externalen Kontrollüberzeugung. Das bedeutet, dass der oder die Erwachsene permanent für das Verhalten des Kindes verantwortlich ist. Die beliebteste Version dieser Kontrolle ist das System von Belohnung und Bestrafung. Darin müssen die Erwachsenen das Kind dabei erwischen, wenn es etwas Gutes tut, um es dann zu belohnen, und auch, wenn es etwas Schlechtes tut, um es dann zu bestrafen. Wer ist in der Verantwortung? Offensichtlich die Erwachsenen. Und was passiert also, wenn kein erwachsener Mensch in der Nähe ist? Kinder lernen so jedenfalls nicht, für ihr eigenes Tun selbst verantwortlich zu sein.

Oft beklagen sich kontrollierende Erwachsene darüber, wie verantwortungslos ihre Kinder sind, aber sie verstehen nicht, dass sie selbst die Kinder dazu anleiten. Auch Nachgiebigkeit fördert verantwortungsloses Verhalten, weil sowohl Erwachsene als auch Kinder die Verantwortung ablehnen.

Eines der wichtigsten Konzepte bei Positive Discipline besagt, dass Kinder bereitwilliger Regeln befolgen, die sie selbst mitaufgestellt haben. Dadurch, dass sie aktiv zum Gelingen von Familie, Klassengemeinschaft und Gesellschaft beitragen, werden sie zu aktiven Entscheidungsträgern mit einer gesunden Selbstwahrnehmung. Das sind wichtige Langzeitfolgen des Positive-Discipline-Ansatzes. Sie können wie folgt zusammengefasst werden:

Fünf Kriterien von Positive Discipline

  1. Ist die Maßnahme gleichzeitig freundlich und bestimmt? (respektvoll und ermutigend)
  2. Hilft sie den Kindern, sich dazugehörig und bedeutsam zu fühlen? (Verbindung)
  3. Ist sie auf lange Sicht effektiv?
  4. Fördert sie wertvolle soziale und lebenspraktische Kompetenzen? (Respekt, Mitgefühl, Problemlösungsstrategien, Verantwortlichkeit, Kooperation)
  5. Lädt die Maßnahme Kinder dazu ein zu entdecken, wie fähig sie sind und wie sie ihre persönliche Macht in konstruktiver Weise nutzen können? (Mitwirkung)

Bestrafungen erfüllen keines dieser Kriterien. Jede Methode in diesem Buch erfüllt hingegen alle. Das erste Kriterium, gleichzeitige Freundlichkeit und Bestimmtheit, stellt dabei einen Eckpfeiler dar.

Offene Fragen

Kindern zu helfen, die Konsequenzen ihrer Entscheidungen richtig einzuschätzen, ist etwas ganz anderes als ihnen Konsequenzen aufzubürden. Es lädt die Kinder ein, sich ihre eigenen Gedanken zu machen, ihre eigenen Schlüsse zu ziehen und zu entscheiden, was ihnen wichtig ist und was sie selbst wollen. Am Ende konzentrieren sie sich auf das Finden von Lösungen anstatt auf Konsequenzen.

Konsequenzen aufzuerlegen, ruft meistens Rebellion und defensives statt freies Denken hervor. Der Weg dahin, dass Kinder selbst nachdenken, führt über offene Fragen und nicht über Befehle.

Allzu oft erklären Erwachsene den Kindern, was passiert ist, was dazu geführt hat und wie sich das Kind deswegen fühlt, was es daraus lernen und was es jetzt deswegen tun sollte. Viel respektvoller und ermutigender ist es aber, wenn wir fragen, was passiert ist, warum es, nach Meinung des Kindes, passiert ist, wie sich das Kind deswegen fühlt, was es gelernt hat, welche Ideen es hat, um das Problem zu lösen, oder wie das Kind das Gelernte in Zukunft anwenden kann.

Das ist die wahre Bedeutung von ›education‹, das vom lateinischen Verb ›educare‹ kommt, was auch heraus-, hinaus-, hin- und wegführen bedeutet. Allzu oft versuchen Erwachsene, etwas in die Kinder ›hineinzubringen‹, statt sie zu etwas hinzuführen, und wundern sich dann, warum die Kinder nicht lernen!

Typische offene Fragen:

  1. Was wolltest du damit erreichen?
  2. Wie fühlst du dich wegen dem, was passiert ist?
  3. Was hat es deiner Meinung nach ausgelöst?
  4. Was hast du daraus gelernt?
  5. Wie kannst du das Gelernte in Zukunft anwenden?
  6. Was fällt dir jetzt als Lösung ein?

Ich nenne diese Fragen typische offene Fragen, weil es wichtig ist, ohne vorgefertigte Skripte an die Sache heranzugehen. Der entscheidende Punkt ist, in die Welt des Kindes einzutauchen. Wie du siehst, ist keine ›Warum‹-Frage dabei. Der Grund dafür ist, dass »Warum?« in der Regel anklagend ist und das Gegenüber in den Verteidigungsmodus zwingen kann. Das ist natürlich nicht nur bei ›Warum‹-Fragen so. All diese Fragen können auch in einem anklagenden Ton gestellt werden. »Warum?« funktioniert dann, wenn das Kind spürt, dass du wirklich an seiner Sicht der Dinge interessiert bist. Die folgenden Erklärungen helfen, wenn du offene Fragen stellen willst.

  1. Nutz kein vorgefertigtes Skript. Du wirst die Welt nicht mit Kinderaugen sehen können, wenn du im Kopf schon einen Plan hast, was das Kind auf welche Fragen antwortet. Deswegen heißen die Fragen ja auch offene Fragen.
  2. Stelle nur Fragen, wenn niemand von euch wütend ist. Warte, bis ihr euch beide beruhigt habt.
  3. Stelle offene Fragen, die direkt aus deinem Herzen kommen. Nutz deine Erfahrung: Sie wird dir zeigen, wie du in die Welt des Kindes gelangen kannst. Zeig Empathie, wahres Interesse und Akzeptanz.

Eines meiner Lieblingsbeispiele dafür ist der Moment, als mir meine Tochter erzählte, dass sie sich auf einer Party betrinken wolle. Ich schluckte und sagte: »Erzähl mir mehr. Warum möchtest du das tun?« »Ganz viele machen das und es sieht so aus, als hätten sie Spaß dabei.« Ich unterdrückte meinen Drang, ihr eine Predigt zu halten, und fragte sie stattdessen: »Was halten deine Freunde davon, dass du nichts trinkst?« Kurz dachte sie nach, dann sagte sie: »Sie sagen mir immer, wie sehr sie mich bewundern und wie stolz sie auf mich sind.« »Was glaubst du, denken sie über dich, nachdem du dich betrunken hast?« Wieder dachte sie nach, bevor sie antwortete: »Ich bin mir sicher, dass sie enttäuscht wären.« »Wie würdest du dir selbst vorkommen?« Diese Frage ließ sie noch genauer nachdenken. Sie brauchte noch ein wenig länger, bis sie eine Antwort hatte: »Wahrscheinlich wie ein Verlierer.« Kurz danach sagte sie noch: »Ich glaube, ich lasse es.« Hätte ich nichts von offenen Fragen gewusst und davon, wie wichtig es ist, den Kindern zu helfen, die Folgen ihres Handelns zu bedenken, wäre ich sehr versucht gewesen, meiner Tochter eine strafende Konsequenz anzudrohen – zum Beispiel Hausarrest. Das Risiko hätte bestanden, dass sie es daraufhin heimlich getan hätte, statt sich mir anzuvertrauen. Am schlimmsten wäre gewesen, wenn sie nicht die Gelegenheit gehabt hätte, für sich selbst herauszufinden, welche Konsequenzen auf ihre Entscheidungen folgen und was sie im Leben wirklich will.
In Eltern und Lehrkräften ist die Angewohnheit fest verwurzelt, zu sagen statt zu fragen. Scherzhaft fordere ich sie immer auf, zwei Wochen lang darauf zu achten, wie oft sie den Kindern etwas sagen, und dann dafür jedes Mal 20 Cent in ein Glas zu legen. Am Ende der zwei Wochen werden sie genug Geld für einen Traumurlaub zusammenhaben.

Die vorgeschlagenen offenen Fragen nenne ich auch Konversationsfragen, weil sie zu einer Konversation einladen. Manchmal sind solche Fragen ganz einfach. Die folgenden Beispiele enthalten ›Motivationsfragen‹. Anstatt einem Kind zu sagen »Vergiss nicht deinen Mantel!«, frag es »Was brauchst du, wenn du nicht frieren willst?« Statt »Putz dir die Zähne!«, frag »Was musst du tun, wenn du saubere Zähne haben willst?« Statt »Geh jetzt ins Bett!«, »Welche Abmachung haben wir für das Ins-Bett-Gehen?« Wenn du an den Unterschied zwischen ›sagen‹ und ›fragen‹ denkst, welche Form ist deiner Meinung nach für Kinder motivierender? Was lädt sie mehr zum Nachdenken und zu Kooperationsbereitschaft ein?

Wenn die Lösungen von den Kindern selbst kommen oder gemeinsam erarbeitet wurden und das Kind auswählt, was für es am hilfreichsten wäre, lernen alle, dass sie einen wertvollen Beitrag leisten, wenn sie respektvolle Problemlösungswerkzeuge anwenden. Kinder lernen außerdem, dass Fehler keine schreckliche Sache sind und du dich nicht über sie aufregst, da du als erwachsene Person sie als Gelegenheiten zum Lernen ansiehst.

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Buch »Positive Discipline. Für eine liebevolle Beziehung zu unseren Kindern« bestellen beim Adonia Verlag

Liste aller Gruppenleiter und Trainings von Positive Discipline Auf Deutsch: www.positivedisciplineaufdeutsch.org

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