Dieser Artikel wurde von Heiko Metz verfasst und erschien zuerst im MRJ Newsletter, der Jugendleiter und Eltern auf ihrem Weg zu besseren Beziehungen mit jungen Menschen unterstützt.

Ein Land voller Fußballtrainer

Hast du dich schon einmal gefragt, wie es sein kann, dass immer die es am besten wissen, die gerade gar nichts mit der Sache zu tun haben?

  • Die besten Erziehungstipps kriegst du von Kinderlosen. Die wissen, wies geht.
  • Alle Stammtischler dieser Welt wissen genau was »die Politik« anders und natürlich besser machen müsste. »Aber uns fragt ja keiner.«
  • Die besten Fußballnationaltrainer sitzen auf dem heimischen Sofa und schreien den Fernseher so laut an, dass es die Spieler vielleicht sogar hören können.
  • Natürlich ist Otto Normalbürger auch der beste Virologe. Das zeigt sich aktuell besonders deutlich.
  • Rund um die aktuell grassierenden Verschwörungstheorien greift anscheinend dasselbe Phänomen: Unter anderem sind ein veganer Koch und ein Musiker auf einmal Experten für Politik, Wirtschaft, Medizin etc.

Warum ist das so? Warum empfinden sich Menschen anscheinend als unsagbar kompetent auf Gebieten, auf denen sie es eigentlich nicht sein können? Warum haben Menschen den Eindruck, sich besser auszukennen, als andere, die dafür studiert und geforscht haben, oder diesen Job einfach schon lange und gut machen und Erfahrungen gesammelt haben?

Inkompetenzgemetzel

Besonders, wer sich auf Social-Media aufhält, findet quasi überall Beiträge oder Kommentare, die einfach falsch sind, also keiner Faktenüberprüfung standhalten könnten. Trotzdem werden sie mit dem Brustton der Überzeugung vorgetragen, der keinen Widerspruch erlaubt, und die eigene Unfehlbarkeit (zumindest bei diesem Thema) gleich mit proklamiert. Jeder, der eine andere Meinung hat, Fakten anbringt, oder auch nur Fragen hat, wird mit Schimpftiraden, Unterstellungen und Beleidigungen überzogen, dass es nur so knallt. Wenn sich dabei zwei Leute treffen, die gegenteilige Meinungen vertreten, aber beide sehr sehr sehr davon überzeugt sind, dass nur sie Experte für dieses Gebiet sein können, dann gibt es virtuellen Krieg. Und der endet nicht selten im Gemetzel mit vielen Kollateralschäden.

Jetzt kannst du natürlich einwenden, dass Meinungsfreiheit doch ein wirklich hohes Gut ist. Deswegen hat jeder das Recht auf die eigene Meinung, egal wie schräg und daneben sie sein mag. Und er hat das Recht diese eigene Meinung allen kund zu tun. Dem stimme ich voll zu. Ich halte es für absolut unersetzlich, dass wir uns frei äußern können, Dinge hinterfragen, verschiedene Sichtweisen zu Gehör bringen usw. Das ist ein Grundstock unserer Demokratie

Trotzdem haben wir es hier meines Erachtens mit einem Problem zu tun, wenn sich immer wieder (und gefühlt immer mehr) Menschen in die eigene Tasche lügen und so tun, als wären sie die absoluten Experten für ein Thema, wenn sie eigentlich nur drei Schlagworte und ein paar Meinungsparolen dazu kennen.

Der Dunning-Kruger-Effekt

Populärwissenschaftlich nennt man diese Kombination aus Inkompetenz und Ignoranz den Dunning-Kruger-Effekt. Entstanden ist diese Beschreibung aus einer Studie zum Verhältnis von Selbsteinschätzung und Fähigkeiten/Kompetenzen.

Quelle: Wikipedia

Die Probanden bekamen Aufgaben zu lösen. Hinterher sollten sie zusätzlich einschätzen, wie gut sie die Aufgaben wohl gelöst haben.

  • Die schlechtesten 25 % schätzten ihre Leistungen als überdurchschnittlich gut ein.
  • Die besten 25 % schätzten ihre Leistungen zwar als überdurchschnittlich gut ein, allerdings als schlechter, als sie wirklich waren.

Neue Runde, neues Glück: Im nächsten Schritt konnten die Probanden die Ergebnisse der anderen einsehen und dann ihre Selbsteinschätzung entsprechend verändern.

  • Die besten 25 % korrigierten ihre Einschätzung nach oben – völlig realistisch und richtig.
  • Die schlechtesten 25 % schätzten sich trotzdem weiter als überdurchschnittlich ein.

Schockierend irgendwie, finde ich.

»Wenn jemand inkompetent ist, dann kann er nicht wissen, dass er inkompetent ist. […] Die Fähigkeiten, die man braucht, um eine richtige Lösung zu finden, [sind] genau jene Fähigkeiten, die man braucht, um eine Lösung als richtig zu erkennen. Dass der Mensch so tickt ist Kern vieler Manipulationsstrategien, wie sie heute mehr und mehr eingesetzt werden.«David Dunning

Typisch für diesen Effekt sind Verhaltensweisen, wie:

  • Ziemlich deutliche Überschätzung des eigenen Könnens und Wissens;
  • Demzufolge: Ausblendung der eigenen Inkompetenz
  • Und gleichzeitig ein Nicht-Wahrnehmen oder Unterschätzen der überlegenen  Fähigkeiten/ des überlegenen Wissens anderer.

Das heißt, der Dunning-Kruger-Effekt ist »schuld« an ziemlich vielen merkwürdigen, fremdschäm-würdigen Meinungsäußerungen unserer Artgenossen. Diskussionen versanden dann regelmäßig, weil wenigstens einer der Gesprächspartner, Argumente nicht als solche sehen kann/will, sondern als Angriff auf die eigene Person und den selbst gebastelten Expertenstatus erlebt. Und deswegen nicht bereit ist, sich auf eine wirkliche Diskussion einzulassen. Die Folge ist, dass andere Meinungen lächerlich gemacht werden, man nur noch ironisch/sarkastisch reagiert und andere als inkompetent abstempelt, ohne an der eigenen Kompetenz auch nur den leisesten Hauch eines Zweifels zuzulassen.

Besonders bitter finde ich dabei, dass Menschen, die diesem Effekt erliegen, sich nicht weiterentwickeln werden, weil sie die Notwendigkeit dafür nicht sehen können. Dass dies auf den ersten Blick oft als sehr selbstbewusst und damit vertrauenerweckend wirkt, macht die Sache nicht unproblematischer.

Nicht ganz ernst gemeint vielleicht, aber deutlich machts das schon 😉

Aber ich fahre doch wirklich besser Auto als andere

Mein Sohn lernt gerade Inliner fahren. Ganz am Anfang hatte er einen ordentlichen Respekt davor und wolle neben Knie- und Handschonern am liebsten ganz in Watte gepackt und IMMER von mir festgehalten werden. Nach wenigen Stunden der Übung kann er sich stehend ganz gut auf den Dingern halten und sich an der Wand lang hangelnd auch einen Meter weit bewegen, ohne zu fallen. So weit, so gut und normal.

Würdest du aktuell meinen Sohn nach seinen Inliner-Fähigkeiten fragen, würde er dir vorschwärmen, wie toll er das kann, dass er sogar schon »Tricks« drauf hat und spätestens morgen mit den anderen Kindern draußen mithalten kann (vielleicht sogar etwas schneller ist, als sie).

Das ist natürlich Blödsinn und eher ein Grund, leise in mich hinein zu lächeln, aber ihm hilft das gerade. So ist er motiviert. Bleibt dran und lernt es über kurz oder lang wirklich! Dabei wird der Effekt sein, dass er einerseits immer besser Inliner fahren kann und gleichzeitig andererseits viel besser beurteilen kann, was er alles noch lernen muss und wie gut die anderen Kinder wirklich sind.

Auf einem normalen Entwicklungsweg von Wissen oder Fähigkeiten kann der Dunning-Kruger-Effekt für den Start also sogar hilfreich sein, wenn er uns pusht dranzubleiben, weiterzumachen und besser zu werden. Wenn er uns das Gefühl gibt, dass wir’s schon können, bereits Experte sind, lähmt er uns aber und hält uns auf unserem Inkompetenzlevel fest – und wir finden uns trotzdem super.

So auch beim Autofahren. Ein ziemlich großer Teil der Autofahrer ist sich sicher: »Ich fahre besser, als der Durchschnitt«. Die Frage »Gehören Sie zur besseren Hälfte der Autofahrer?« beantworteten fast alle mit »Ja«. Auffällig ist dabei, dass z.B. junge männliche Autofahrer am meisten von ihren Fahrkünsten überzeugt sind. Deswegen machen sie sich gern über Frauen lustig, die ja »sowieso nicht einparken können« und lästern gern über andere Fahrer: »Wo hat der denn seinen Führerschein gemacht? Im Lotto gewonnen?« Gleichzeitig führen sie die Unfallstatistiken an.

»Was den Hang zur Selbstüberschätzung betrifft, scheinen die ersten Lernerfolge eine gefährliche Sache zu sein. Obwohl Anfänger zu Beginn bescheiden in ihrer Selbstwahrnehmung sind, reicht schon ein bisschen Erfahrung, damit ihre Selbsteinschätzung die eigene Leistung übersteigt.« –Carmen Sanchez, David Dunning

Kompetenz entwickelt sich in Stufen

Das Dreyfus-Modell beschreibt fünf:

  • Anfänger
  • Fortgeschrittener
  • Kompetenter
  • Versierter
  • Experte

Der Weg zum heiß begehrten Expertenstatus ist weit. Es mag zwar meinem Ego schmeicheln, mich für einen Experten zuhalten, wenn ich gerade mal die Anfängerstufe verlassen habe. Wirklich hilfreich ist das am Ende aber nirgendwo und für niemanden. Im Gegenteil.

Wenn ich jemandem folgen, ihn feiern, ihm glauben und ihn verteidigen will, sollte ich vorher genau prüfen, ob er nur ein selbst ernannter, oder ein echter Experte ist.

Kompetent werden

Auf den ersten Blick, scheint der Dunning-Kruger-Effekt zwar zu erklären, warum so viel Inkompetenz in unserer Welt hofiert wird. Auf den zweiten Blick ist es ernüchternd mitzuerleben, wie schwer es oft ist mit Menschen in echte Gespräche zu kommen und sie sogar von etwas zu überzeugen, wenn diese bezüglich ihrer eigenen Inkompetenz ziemlich ignorant sind. Wer das Problem nicht sehen kann, will es natürlich auch nicht lösen.

»Zwei Dinge sind unendlich, das Universum und die menschliche Dummheit, aber bei dem Universum bin ich mir noch nicht ganz sicher.« –Albert Einstein

Dazu kommt, dass man auch selbst besagtem Effekt erliegen könnte und die anderen für minder Kompetent hält, obwohl man es vielleicht selbst ist. Man bräuchte letztlich eine ziemlich hohe Kompetenz, um andere wirklich »beurteilen« zu können – aber gerade diese besonders hohe Kompetenz schreiben sich ja besonders diejenigen gerne zu, die sie eben absolut nicht haben… schwierige Sache!

Es bleibt uns allen nichts anderes übrig, als unsere eigenen Kompetenzen unablässig zu steigern – und so gleichzeitig besser darin zu werden, uns und andere einzuschätzen.

Dabei hilft mir:

  • Mich immer wieder selbst zu hinterfragen
  • Andere regelmäßig um konstruktive Kritik zu bitten
  • Und wirklich lebenslang aktiv ein Lernender zu sein und zu bleiben.

Bildung und Feedback sind die Schlüsselwörter für uns selbst – ebenso, wie für unsere Kids und Jugendlichen.

Helfen wir unseren Teilnehmern

  • Spaß am Lernen von Neuem zu haben und in unserer Arbeit vielfältige Lernerfahrungen zu ermöglichen,
  • tiefer in Themen einzusteigen und wirklich Experte für einzelne Themengebiete zu werden,
  • Kriterien zu entwickeln, mit denen sie sich und ihre Fähigkeiten einschätzen können, ebenso Kriterien, um andere diesbezüglich einschätzen zu können. Und diese Kriterien regelmäßig anzuwenden.
  • Eine Feedbackkultur zu implementieren,
  • und Selbstbewusstsein auch abseits von Kompetenzen zu fördern. Kindern und Jugendlichen beizubringen und zu zeigen, dass sie um ihrer selbst willen wertvoll sind und deswegen angstfrei realistisch auf sich selbst und die eigenen Kompetenzen schauen können.

»Demokratie muss in jeder Generation neu geboren werden und Bildung ist ihre Hebamme.« –John Dewey

Ein positives Beispiel dafür ist König Salomo im alten Israel. Er wird recht jung König und hat viele Konkurrenten/Neider für den Thron. Eines Nachts erscheint im Gott in einem Traum und gewährt ihm einen Wunsch. Ein Dunning-Kruger-Effekt-König hätte sich vielleicht überlegt: »Ich bin der beste König überhaupt. Keiner ist besser für das Land als ich. Also wünsche ich mir ewiges Leben.« Aber das tut Salomo nicht. Er wünscht sich auch nicht Gesundheit oder Reichtum. Stattdessen sagt er: »Du hast mir ein großes Volk und eine noch größere Aufgabe anvertraut Gott. Ich brauche sehr, sehr viel Weisheit dafür, diesem Land ein guter König sein zu können. Und genau diese Weisheit erbitte ich von dir!«

Der erste Wunsch hätte dem Land einen ewig lebenden inkompetenten König beschert, sein wirklicher Wunsch bringt einen Expertenkönig hervor, der dem ganzen Land zu Wohlstand und Frieden verhilft. Wir brauchen mehr Salomos in unserer Welt!

Ein Bild von einer Welt

»Es ist eine andere Welt, in der man zwischen ›Freiheit‹ und ›Freizeit‹ nicht unterscheiden kann, ›Gesellschaft‹, sagt und, ›Zielgruppe‹ meint, von einem ›Konzept‹ spricht und nicht einmal eine ›Idee‹ besitzt, von einer ›Idee‹ spricht und nicht einmal einen ›Einfall‹ hat.« –Roger Willemsen

Eine Welt mit weniger Dunning-Kruger-Effekt hätte weniger sinnlose Streiterei. Weniger selbst ernannte Experten und dafür mehr Einfluss für echte Experten. Weniger Verschwörungstheoretiker und noch weniger Groupies derselben. Aber vor allem mehr Menschen mit einem positiven Selbstbewusstsein und Reflexionsvermögen. Mehr Menschen auf dem Weg zum wirklichen Expertendasein.

Das scheint mir eine Welt, in der ich gern leben würde. Eine Welt für die es sich lohnt zu arbeiten.

Also, packen wir’s an!

Dein Heiko

Foto von Luz Fuertes auf Unsplash

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