Liebe ist immer der Preis

Wenn uns die räumliche Distanzierung der letzten Monate etwas gelehrt hat, dann dass Nähe in Beziehungen für das Wohlergehen der Menschen wichtig ist. Und obwohl soziale Distanzierung kein soziales Experiment ist, kommen wir nicht umhin, uns wie in einem riesigen Laboratorium zu fühlen. Die Welt ist zwischen denen, die unter fehlendem menschlichem Kontakt leiden, und denen, die verzweifelt versuchen ihre Kontakte einzuschränken, aufgeteilt. Was macht das mit uns?

Als ob wir nicht schon genügend TV-Shows haben, die ihre Zuschauer auf die Probe stellen, kommt hier Netflix‘ Version von Love Island, Too Hot to Handle? auf Deutsch Finger weg! ins Spiel.

Die Sendung besteht im Wesentlichen aus Sand, Meer, Surfen und jungen, sexy Leuten. Nichts Neues, oder? Aber das ist nicht alles. Da steckt noch mehr dahinter. Nach nur 12 Stunden auf der Insel wird den Hausbewohnern gesagt, dass sie 100.000 Pfund gewinnen können, aber nur, wenn alle auf Sex verzichten (was Küssen, sexuelle Berührungen und Masturbation einschließt). Der Lockdown für sie ist nicht nur soziale Distanzierung, sondern ein Lockdown für alle sexuellen Aktivitäten. Genauso wie wir derzeit gezwungen sind, unsere täglichen Ausflüge einzuordnen: »Ist die Fahrt zum Laden wirklich nötig?«, müssen die Teilnehmer abwägen, ob Knutschen am Pool den Verzicht auf ein Preisgeld wert ist.

Das ist Trash-TV in seiner reinsten Form. Es ist eine Welt ohne Gott, in der der Instinkt regiert. Man kann es sich freiwillig ansehen… und ich selber kann nicht aufhören, es mir anzusehen. Und die jungen Leute, mit denen ich arbeite, auch nicht. Also, nicht alle.

Einige von ihnen lieben und andere hassen diese Sendung. Diejenigen, die sie lieben, verstehen nicht, warum andere so streng darüber urteilen. Und diejenigen, die sie hassen, können nicht verstehen, warum einige Leute so viele Stunden mit der Serie verschwenden.

»Ja, es macht süchtig, aber ich liebe es«, sagte eine 15-Jährige. »Die Sendung ist so witzig. Meistens schaue ich sie mir an, um mich über die Kandidaten lustig zu machen, aber ich mag sie auch. Ich liebe die Frisuren der Mädchen. Sie sind so hübsch.«

»Ich schaue mir die Sendung nicht an, weil die Teilnehmer einfach nicht echt sind!« Protestierte eine 17-Jährige. »Sie tun nur so. Sie spielen eine Rolle. Sie verhalten sich einfach so wie es die Zuschauer von Menschen ihrer Sorte erwarten. Ich verstehe es nicht. Ich meine, ich verstehe, dass es bei Sendungen wie Love Island um das Kein-Sex-Ding geht. Aber mich interessiert es nicht, dass Leute versuchen keinen Sex zu haben. Ich weiß ja schon wie das ist, und ich brauche sie nicht dafür um mir das zu zeigen!«

Ich wusste genau, wen ich anrufen musste, um diese Antworten zu erhalten. Das beweist doch, dass es hier um instinktive Denkmuster geht – und das ist etwas, worauf man achten muss. Es gibt großartige Gespräche, die aus einer Serie wie dieser entfacht werden können: über die Auswirkungen unseres Handelns auf andere Menschen und darüber, was für tiefere Verbindungen sorgt. Ich frage mich aber, wie aktiv junge Menschen diese Themen erforschen. Sie werden von einer Gesellschaft geformt, die nach TikTok süchtig ist, die von Pornhub erzogen wurde, in der jeder für seine eigene Art von Glück verantwortlich ist und in der Sex so einfach wie ein Swipe nach rechts ist. Natürlich wissen sie, dass das, was sie in Too Hot to Handle sehen, nicht real ist … bis sie es nicht mehr wissen. Das Bedürfnis, makellos und perfekt zu sein, fühlt sich sicherlich real an. Das Geschlechterstereotyp, dass Männer dominant und Frauen widerstandslos sein sollten, ist nicht auf eine Insel in sexuellem Lockdown beschränkt. Es sind komplexe Zeiten, in denen man herausfinden muss, wer man ist. Zu wissen, dass ein Haufen heißer Typen nicht wirklich sie selbst sind, sondern eine Rolle spielen, hilft einem jungen, unsicheren Menschen, der herausfinden will, wie er mit seiner eigenen einzigartigen Durchschnittlichkeit umgehen soll, leider nicht.

Junge Menschen, die bewusst und aus eigenem Antrieb auf sexuelle Aktivitäten verzichten, könnte dieses Spiel, bei dem Erwachsene ständig versuchen die Regeln auszureizen, nerven. Oder es könnte ihnen eine Chance bieten, den eigenen Umgang mit Grenzen realistisch zu sehen. Dazu sagt die 21-jährige Chloe:

»Wir teilen Sex in verschiedene Abstufungen auf, richtig? Ich will die Versuchung. Ich will meine Grenzen testen. Und wenn mir jemand nahe kommt, werde ich sagen: ›Denk an deine Oma!‹«

Das ist unbezahlbar!

Angst bewegt uns

Das bringt mich zu einer weiteren Sache, die uns der Lockdown lehrt: Wir können das Richtige tun, wenn unsere Angst, beschämt zu werden, groß genug ist.

Wir alle leben in einer Zeit der gemeinsamen Wachsamkeit und außerordentlichen Solidarität. Wir haben dieses neue kollektive Bewusstsein dafür, wie sich unser Handeln auf andere auswirkt. Wir fühlen uns wie nie zuvor von strengen Gedanken und Ideen kontrolliert, und erstaunlicherweise sind die meisten Menschen (einschließlich junger Menschen) gefügig. Vor ein paar Tagen habe ich mich gefragt, warum wir nicht mehr junge Menschen sehen, die sich nicht an die Lockdownregeln halten. Seitdem ich Too Hot to Handle wie verrückt sehe, ist mir klar geworden, dass junge Menschen vielleicht am ehesten nach den Regeln spielen, wenn die Angst vor Scham die Freude an der Autonomie überwiegt.

»Du warst dumm«, sagt Kelz zu Harry, nachdem er zugegeben hatte, Francesca geküsst zu haben (obwohl er meinte, dass »sie mich geküsst hatte«), »und es hat uns alle 3.000 Pfund gekostet. Sei nicht wieder dumm.«

Aus diesem Grund sind eine schlechte Theologie christlicher Sexualethik und deren dürftige Vermittlung in der Jugendarbeit so schädlich für junge Menschen. Weil sie es wirklich verstehen. Sie wissen, wie es sich anfühlt, beurteilt, isoliert, abgelehnt zu werden, die kollektive Scham für das, was sie getan haben (oder glauben, getan zu haben), zu tragen, obwohl sie wissen, dass auch andere Fehler machen.

Nicht nur auf tropischen Inseln wird der Regelbruch eines Menschen zum Brennpunkt für die Frustration, Angst und Unsicherheit aller. Ein Fehler kann einen für lange Zeit etikettieren, besonders in manchen Kirchengemeinden. Kein Wunder, dass einige junge Menschen wie die Kandidaten reagieren; wenn man zu Unrecht wegen eines kleinen Vergehens herausgegriffen wurde, kann man genauso gut aufs Ganze gehen. Oh, und das ist die andere Sache, die Harry sagt, als er Francesca küsst: »Wir haben schon Scheiße gebaut, da können wir auch gleich aufs Ganze gehen.« Kommt dir das bekannt vor?

Was machen wir Jugendleiterinnen und Jugendleiter mit einer solchen Sendung?

Wenn du es kannst, schau dir ein bisschen davon an. Es gibt einige interessante Diskussionen, die sich daraus ergeben:

  • Kann ein Paar, das seine sexuelle Aktivität hinauszögert, eine tiefere Verbindung entwickeln?
  • Bei allem, was die Menschen über einvernehmlichen Sex wissen, warum wird so viel an Po und Brüste gegriffen, ohne sich vorher bei der Person Einverständnis zu holen?
  • Glaubst du, dass die Kandidaten die Insel in dem Glauben verlassen, dass die Enthaltsamkeit eine gute Sache ist oder dass das Warten auf Sex nur den Nervenkitzel verstärkt?
  • Warum hat Gott es so eingerichtet, dass der beste Sex der ist, bei dem es eine tiefe emotionale Verbindung und Verpflichtung gibt?
  • Warum haben wir in der Gesellschaft ein so enges Ideal dafür, was an einer Person sexuell attraktiv ist (nämlich Tattoos, Sixpack, knackige Brüste und Hintern)?

Sie könnten sich auch mit einigen Mythen beschäftigen, die in der Serie breitgetreten werden, wie z.B. der, dass Männer Sex haben müssen, weil ihnen sonst die Eier abfallen. Vielleicht willst du eine Diskussion über einige der beunruhigenden Ideen und Verhaltensweisen in Gang bringen, wie z.B. wenn ein Mädchen einen Bikini trägt, darf ein Typ, den sie gerade kennengelernt hat, sie überall anfassen? Schliesst das Streben nach Geld jegliche Verantwortung für das emotionale Wohlergehen der anderen Teilnehmer aus? Wie geht man damit um, jemand sagt: »Unvergessliche Erlebnisse sind mehr als 100.000 Pfund wert«, aber er/sie dich einfach nur flachlegen will?

Beziehungen und sexuelle Gesundheit

Unabhängig davon, ob man sich diese Sendung ansieht oder nicht, der Lockdown ist ein genauso guter Zeitpunkt wie jeder andere, um junge Menschen, mit denen man arbeitet, einzuladen, sich Gedanken über ihre Beziehungen und ihre sexuelle Gesundheit zu machen.

Ein kürzliches Telefongespräch mit einem älteren Teenager über Telefonsex war eine gute Erinnerung daran, dass junge Menschen unterstützt werden müssen, wenn sie diese Dinge in einer sich schnell verändernden Welt in Angriff nehmen. Es lohnt sich, unsere eigenen Geschichten über Versuchungen, Grenzen setzen, Regeln brechen, Scham empfinden und Gnade finden, zu erzählen.

Ich erinnere mich, dass ich als Studentin mit einem Typen in der örtlichen Kneipe geplaudert habe, der mir sagte, dass »die Tatsache, dass du Christin bist, dazu führt, dass jeder Kerl hier drin mit dir schlafen will«.

»Warum?«, fragte ich peinlich berührt und trotzdem irgendwie geschmeichelt von so einer objektivierenden Bemerkung.

»Weil du keinen Sex haben darfst, oder? Du wärst also eine Eroberung. Denn sie denken, du bist so ’ne Heilige, die sowieso nichts in dieser Richtung unternehmen würde.«

»Das bin ich nicht. Ich meine, ich bin so. Aber es ist nicht so, dass ich nichts darf…«, murmelte ich.

»Was darf denn eine gutes, christliches Mädchen wie du?«, schmunzelte er.

»Backen?«, war meine langweilige Antwort.

Ein paar Wochen später musterte mich ein christlicher Typ, den ich kannte, von oben bis unten und sagte mir: »Auch wenn Jungs auf Diät sind, schauen sie sich trotzdem noch die Speisekarte an.«

»Was soll das heißen?« Fragte ich.

»Streng dich einfach nicht so an.«

»Ich wusste nicht, dass ich das tue«, murmelte ich. Schon wieder peinlich berührt.

Wenn es um Beziehungen geht, waren, als ich jung war, Verwirrung und Scham meine zwei engsten Freunde. Ich fühlte auch Aufregung, Sehnsucht und Verzweiflung, aber vor allem war es die Unsicherheit darüber, wie ich radikal zu Christus gehören und auch frei sein konnte, ich selbst zu sein. Dieser Gedanke machte den Kern der meisten meiner Probleme aus (das und eine seltsame Besessenheit von den Spice Girls).

Die Bibel ist voller Weisheit für ein gottgefälliges Leben. Das bedeutet, ein Leben zu führen, das Gott gefällt. In Kolosser 1,10-12 betet Paulus dafür, dass junge Christen den Willen Gottes erkennen, damit sie kraftvoll und effektiv als Jünger Christi leben können. Aber für Paulus ist dieses »Kennenlernen des Willens Gottes« kein Sofort-Download. Paulus spricht über die wichtige Arbeit, die wir leisten, wenn wir Gott weiterhin durch sein Wort, seinen Geist und andere Christen suchen.

Es ist Arbeit die unsere Widerstandskraft aufbaut, der Versuchung zu widerstehen und Freiheit zu wählen. Wir wollen junge Menschen ermutigen und unterstützen, die harte Arbeit zu leisten, Gott zu bitten, ihnen seinen Willen für ihre Beziehungen aufzuzeigen. Sie werden nicht nur erfahren, was sie tun können, um Gott zu ehren, sondern werden auch entdecken, dass ihnen die geistlichen Muskeln wachsen, die ihnen helfen, dies auszuleben, ob sie nun in ihrem Zimmer, auf einer tropischen Insel oder in der Schule sind.

Ich bete für sie, dass sie sich folgendes fragen, wenn sie Gott nicht als kosmischen Sex-Polizisten, sondern als ihren ewigen, endlos liebenden Vater kennenlernen: »Wie wird meine liebevolle Hingabe an Gott heute aussehen?«

Schließlich geht es uns nicht um lebenslange Enthaltsamkeit. Sondern um das Leben in seiner ganzen Fülle.

Wir freuen uns, über deine Tipps zu dem Thema. Wie setzt du dich für Jugendliche ein? Teile deine Erfahrungen in unserer Facebook-Gruppe für Jugendleiter.

Dieser Artikel wurde von Rachel Gardner verfasst und zuerst von Youthscape veröffentlicht. Deutsche Version von Sylvia-Alexandra Matei.

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