»Vielleicht solltest du weniger an deinem Handy hängen.« Diese Aussage wird einen Teenager wohl kaum überzeugen. Für einige von uns hängt der berufliche Erfolg in gewissem Maße davon ab, die Aufmerksamkeit der Teenager zu gewinnen und aufrechtzuerhalten. Für uns scheint es daher ein Wunschtraum zu sein, dass junge Menschen bereitwillig die Nutzung ihrer Smartphones einschränken oder anpassen. Einige Teenager beschreiben ihr Smartphone als einen zusätzlichen Körpertei; andere sind sich einer Sucht nach Likes, Pings und Benachrichtigungen weniger bewusst, aber nicht weniger anfällig dafür. So sehr sich Technikskeptiker der älteren Generationen wünschen, dass wir die Zeit zurückdrehen könnten, so sehr sind Telefone, Apps und soziale Medien heute in den Herzen von Teenagern verankert. Es scheint, als könne nichts ihren rücksichtslosen Marsch in Richtung einer immer größeren Herrschaft über die Zeit von Jugendlichen aufhalten.

Plötzlich findet jedoch eine andere Art von Gespräch statt, das nicht nur von der älteren Generation und den Technikskeptikern geführt wird, sondern von genau den Führungskräften im Silicon Valley, die diese Geräte und ihre Software überhaupt erst entwickelt haben. Diese Konversation weckte auch das Interesse junger Leute, welche nun ihre Stimme einfließen lassen möchten. Ironischerweise wird diese neue Debatte durch einen der schlimmsten Fresser der Wachzeit junger Menschen ausgelöst: Einen von Netflix produzierten und vertriebenen Dokumentarfilm.

Das Dilemma mit den sozialen Medien hat sich seit seiner Veröffentlichung am 9. September in fast allen Ländern, in denen Netflix online ist, an die Spitze der Netflix-Charts bewegt. Zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Artikels ist es in den unterschiedlichsten Ländern wie Peru, Jordanien, Russland und Australien die Nummer 2 (weil im Moment niemand mit Enola Holmes konkurrieren kann). Überall sonst ist es unter den Top 10. Ein Dokumentarfilm mit verhältnismäßig niedrigem Budget, in dem vor allem Programmierer und Marketingleute vor der Kamera sprechen, ist in aller Munde. Wenn du ihn einmal gesehen hast, wirst du verstehen, warum. Aber, du wirst wahrscheinlich auch eine Mischung aus Überraschung und Faszination darüber verspüren, dass der Film unter jungen Leuten für so viel Aufsehen gesorgt hat.

Wir sind das Produkt

Es dauert eine Weile, bis genau verstanden wird, was das Dilemma mit den sozialen Medien sein soll. Neben dem bekannten roten Faden von Interviews mit Brancheninsidern, in denen die Motive des Silicon Valleys erläutert werden, gibt es auch eine immer wiederkehrende dramatisierende Geschichte, die die gegenwärtige Besessenheit der Welt mit Smartphones illustriert. In dieser zweiten Handlung durchlebt eine typische amerikanische Familie aus der Mittelklasse die Gefahren des Schul- und Soziallebens und die gescheiterten Versuche, gemeinsam zu essen, während sie ständig nach den Geräten greift, nach denen sie so süchtig ist. Dann gibt uns ein dritter Erzählstrang einen Einblick in die Art und Weise, wie der Teenager-Sohn, durch seine Social Media Accounts manipuliert wird.

Da dieser Film von Netflix selber kommt, kann man ihn als Warnung verstehen, das im Zentrum der globalen Technologieindustrie etwas sehr falsch läuft. Wir alle kennen die Sorge über zu viel Bildschirmzeit, die möglichen Auswirkungen von Gewalt in Videospielen und die Suchtgefahr von »Likes« sozialen Medien. Aber jetzt geht es noch viel weiter. Eine wachsende Gruppe von Experten ist der Meinung, dass die Social-Media-Firmen ungesunde Verhaltensweisen in der gesamten Online-Bevölkerung der Welt fördern, weil sie damit Geld verdienen: Verlust der offline Welt, Suchtverhalten gegenüber dem Handy, weniger Zeit in echten Beziehungen, einseitige Meinungsmache und vereinfachte Radikalisierung. Und nicht nur das, sie setzen Praktiken mit einer zutiefst fragwürdigen Ethik ein, um unsere Daten zu speichern, zu verkaufen und in dem Streben nach Werbeprofit zu nutzen. Der berühmte »Vater der Virtual Reality«, Jaron Lanier, fasst das Problem in einem netten, aber beunruhigenden Satz zusammen: »Wenn du nicht für ein Produkt [online] bezahlst, dann bist du das Produkt.« Wir glauben, dass wir unsere Smartphones benutzen, aber der Film liefert ein starkes Argument dafür, dass sie in Wirklichkeit uns benutzen.

Foto von Meghan Schiereck auf Unsplash

Wenn du auch nur annähernd so tickst wie ich, wirst du bis zum Abspann des Films die Hälfte der Apps auf deinem Smartphone gelöscht haben. Dennoch bleibt die Frage: Warum findet dieser Film bei jungen Menschen solchen Anklang? Wenn Teenager so an ihren Geräten hängen, warum in aller Welt sollten sie sich auf die Idee einlassen, dass ihre geliebten Apps schlecht für sie sein könnten?

Ein Teil der Antwort liegt in der Autorität der Stimmen hier. Tristan Harris, der in den Interviews die meiste Bildschirmzeit bekommt, hat sich bei Google einen Namen gemacht; zu den anderen sprechenden Köpfen gehören Unternehmer und Programmierer, die an den kritischen Entwicklungsphasen von Instagram, Pinterest, Facebook und Twitter beteiligt waren. Kritiker mögen die Ethik der Interviewten infrage stellen, die bereits Millionen im Silicon Valley verdient haben und sich nun entscheiden, den Ast abzusägen, auf dem sie sitzen. Aber ihre Aussagen sind glaubwürdig, da sie all dies von innen gesehen haben. Damit tun sie unreflektierten Jugendlichen einen Gefallen: Niemand kann Smartphones so gut infrage stellen, wie die Genies, die bei der Entwicklung von Instagram geholfen haben.

Vielleicht gibt es auch ein Element des perfekten Timings. Der Dokumentarfilm begann mit den Dreharbeiten lange bevor die Covid-19-Pandemie in vollem Gange war, aber er wirkt gerade für diese Zeit besonders relevant. Im Laufe des Jahres 2020 wurden junge Menschen zum ersten Mal von denselben Erwachsenen dazu gezwungen ihre Bildschirmzeit zu verlängern, die zuvor vergeblich versucht hatten, diese zu limitieren. Sie hatten Unterricht am Bildschirm, und bauten Beziehungen über ihre Smartphones. Sie mussten sogar den Gottesdienst, Clubs und Jugendgruppen mittels Online-Technologie besuchen. Jeder Versuch, ein gesundes Online-/Offline-Gleichgewicht zu erreichen, wurde von einer Welle der Notwendigkeit überrollt. Und jetzt, da wir alle auf unsere Smartphones und andere Geräte angewiesen sind – vielleicht mehr als je zuvor – ist es ganz natürlich geworden, tiefere Fragen darüber zu stellen, wie gesund sie wirklich sind.

»Eine wachsende Gruppe von Experten ist der Meinung, dass die Social-Media-Firmen ungesunde Verhaltensweisen in der gesamten Online-Bevölkerung der Welt fördern, weil sie damit Geld verdienen: Verlust der offline Welt, Suchtverhalten gegenüber dem Handy, weniger Zeit in echten Beziehungen, einseitige Meinungsmache und vereinfachte Radikalisierung. Und nicht nur das, sie setzen Praktiken mit einer zutiefst fragwürdigen Ethik ein, um unsere Daten zu speichern, zu verkaufen und in dem Streben nach Werbeprofit zu nutzen. Wir glauben, dass wir unsere Smartphones benutzen, aber der Film liefert ein starkes Argument dafür, dass sie wirklich uns benutzen.«

Ein globaler Diskussionsstarter

Die Filmemacher und ihre Protagonisten erklären immer wieder, dass sie eine Diskussion über die Ethik der sozialen Medien starten wollen. Wenn man bedenkt, wie viele junge Menschen sich derzeit mit »The Social Dilemma« auseinandersetzen, könnte es zum Diskussionsstarter für Jugendstunden werden. Viele junge Menschen haben den Film bereits gesehen, aber ich denke, wir sollten diejenigen, die es noch nicht gemacht haben, dazu ermutigen. Mein Tipp: Organisiere eine koordinierte Vorführung, gefolgt von einer Diskussionsrunde. Wenn du das machst, sind hier ein paar Fragen für das Gespräch nach dem Film:

  • Dachtet ihr vor dem Film, dass es eine Kehrseite zu den sozialen Medien und der Nutzung von Smartphones gibt? Wenn ja, was war sie für euch?
  • Nachdem ihr den Film gesehen habt, welche Bedenken habt ihr gegenüber Technologie und Technologiekonzernen?
  • Gibt es Aussagen im Film, denen ihr nicht zustimmt, die ihr nicht glaubt, oder die ihr infrage stellt?
  • Gibt es etwas, das ihr gerne in Bezug auf euer Smartphone oder eure Social Media Gewohnheiten ändern möchtet?
  • Welchen Platz haben Glaube und Gott in all dem – in der Frage, wie wir unsere Zeit online verbringen? Warum?
  • Welche positiven Veränderungen würdet ihr gerne an Social-Media-Apps und anderen Internet-Technologien vornehmen lassen?

Du kannst nicht vorhersagen, wie die jungen Menschen auf den Film reagieren werden, und solltest auch nicht versuchen, sie zum Nachdenken zu zwingen. Ich habe mit Teenagern gesprochen, die glauben, der ganze Film sei Netflix‘ Version von »Fake News« (gefälschten Nachrichten) – liberale Panikmache mit einer Vielzahl von Interviewpartnern mit pfiffigen Berufsbezeichnungen, von denen sie zuvor noch nie etwas gehört hatten (warum sollten sie also jetzt zuhören?). Andere haben dieselben Befragten beim Wort genommen und sofort damit begonnen, ihr soziales Online-Leben herunterzufahren. Es ist ein Film, der garantiert eine Reaktion und eine Debatte auslösen wird. Und wenn man bedenkt, wie undurchsichtig der Marsch der Technologieunternehmen zur Weltherrschaft war, kann das nur gut sein. Das Fazit: Junge Menschen überdenken viel eher ihren Umgang mit Technologie, wenn wir sie mit den Schattenseiten derselben konfrontieren, als wenn wir ihnen einfach sagen, sie sollen ihre Smartphones weglegen.

Der Ruf der Einfachheit

Interessanterweise war der Ruf nach Verlangsamung und Ruhe in den christlichen Führungskreisen das eine Thema, das in den Monaten bis März 2020 für Aufregung sorgte. Dank John Mark Comers Bestseller The Ruthless Elimination of Hurry kamen die alten spirituellen Disziplinen, wie Sabbat, Stille und Einfachheit bereits wieder in Mode. Noch bevor wir gezwungen waren, langsamer zu werden, erkannten wir die dringende Notwendigkeit, dies angesichts der unaufhörlichen Verbreitung von Technologie zu tun.

Es ist kein neuer Gedanke, aber in einer Welt dysfunktionaler, auf Ablenkung basierender Technologie ist eines der stärksten Angebote, das der christliche Glaube machen kann, einfach still zu sein. In den letzten Jahren haben Mark Yaconelli und andere argumentiert, dass das Gegenmittel gegen die überwältigende Geschäftigkeit im Leben junger Menschen das Angebot von Frieden, Trost und Zugehörigkeit ist. Das können junge Menschen im Gebet und im stillen Nachdenken finden. Ich frage mich, ob wir uns manchmal ein wenig scheuen, dieses Angebot zu machen, aber meiner Erfahrung nach war es in den letzten sechs Monaten genau diese Art von Angebot, die die Fantasie der jungen Menschen angeregt hat, weit mehr als das neuste Zoom-basierte Treffen oder die neuste YouTube-ermöglichte Performance.Viele, wenn nicht sogar die meisten jungen Leute sind völlig fasziniert von ihren Smartphones, und einer der größten Tricks, die die Technologie mit sich bringt, ist, sie davon zu überzeugen, dass sie ihnen guttut. Drogen und andere Süchte bewirken etwas sehr Ähnliches. Das Dilemma mit den sozialen Medien hat das Potenzial, junge Menschen von dieser Illusion zu befreien (Vergleiche mit dem Sci-Fi-Film Die Matrix sind wohlbegründet). Als Kirche haben wir einige ziemlich überzeugende Alternativen, die wir jungen Menschen anbieten können, von echter Freundschaft und einem Ort der Zugehörigkeit bis hin zur Möglichkeit, das Gehirn auszuruhen und sich von all der ständigen Ablenkung zu entgiften. Da überall junge Menschen fragen, ob die Geräte, die im Mittelpunkt ihres Lebens stehen, gut für sie sind, haben wir die Chance, sie auf ein Leben und ein Abenteuer hinzuweisen, das so viel gesünder und erfüllender ist.

Dieser Artikel wurde von Martin Saunders verfasst und zuerst von unseren Freunden bei youthscape.co.uk veröffentlicht, die die christliche Jugendarbeit in Grossbritannien fördern. Übersetzt von Esther Penner.

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