»Gut, dass du diese Arbeit machst.« (Mit Betonung auf »du«), »Ich könnte das nicht.«, »Die Jugend von heute braucht das.« »Die jungen Leute lassen sich doch nichts sagen.«

Ich sitze im Innenhof unseres Wohnprojektes und sehe meinen Kindern beim Matschen im Sand zu. Knapp drei Monate arbeite ich jetzt als Jugendreferent des Weißen Kreuzes und bei klassischen Spielplatzgesprächen tausche ich mich natürlich auch über den beruflichen Alltag aus. Nach der verwirrten Frage: »Und was machst du genau?« und meinen offenherzigen Erklärungen dazu, läuten die gerade genannten Sätze meist das Ende des Gespräches ein.

Ich verstehe die teils schambehaftete Sprachlosigkeit und Unsicherheit zum »Thema Nr. 1«. Mit Jugendlichen über Sexualität, Ethik, Bibel und Pornos zu reden erscheint manchem als olympische Disziplin, die lieber »den Profis« überlassen bleibt.

Ratgeber: Umgang mit Pornografie
Ein praktisches Handbuch zum Thema Pornografie, das Eltern und pädagogisch Verantwortlichen beim Einstieg in das Thema Pornokonsum hilft, Tipps und Materialien für Alltag und Begleitung von Kindern und Teenagern bereitstellt.

Was mich nachdenklich stimmt, ist die dahinterliegende Wahrnehmung der jungen Menschen, die im Jahr 2022 von Kindern zu Erwachsenen reifen.

Die Erwachsenenwelt scheint die »Generation Z« (Alterskohorte, die zwischen 1995 und 2009 geboren wurde) verloren zu haben.

Soziale Medien, das Smartphone, Unzuverlässigkeit, Sprunghaftigkeit, widersprüchliche moralische Überzeugungen bis hin zum zunehmenden »Sittenverfall« werden als Übeltäter ins Feld geführt. Es scheint einen großen, unüberwindbaren Graben zwischen Jugendlichen und Gesellschaft zu geben, den nur wenige mutige Pädagogen und Pädagoginnen, aufopferungsvolle Ehrenamtliche, liebevolle Eltern und profitorientierte Unternehmen zu überqueren wagen.

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Im Folgenden werde ich diese Generation Z vorstellen: Wer ist sie? Was bewegt sie im Blick auf Sexualität? Daraus folgen drei praktische Anstöße für alle Brückenbauer: Welcher Weg führt zu den Herzen der Generation Z?

Steckbrief Gen Z

Generation Z, GenZ, Millennials oder »Digital Natives 2.0« wird die Alterskohorte genannt, die zwischen 1995 und 2009 geboren wurde. Sie und ihre Vorgänger (Generation Y: geboren zwischen 1980 und 1994) und Generation X: geboren zwischen 1965 und 1979) beschreiben typische Wertecluster und Einstellungen zum Verhältnis von Arbeit und Leben. Sexualität und wie sie tendenziell mehrheitlich gelebt und bewertet wird, lässt sich daraus gut folgern.

Die Gen Z wird charakterisiert durch[1]:

  • Immer online: Sie sind mit Social Media und allen technischen Neuerungen selbstverständlich aufgewachsen
  • Selbstbestimmtes Leben statt starren Vorgaben
  • Wahlfreiheit zu haben ist Motivation und Überforderung zugleich.
  • Einschränkungen der Wahlfreiheit sind Bevormundung und Erleichterung zugleich
  • Wahr ist, was sich wahr anfühlt: Was sich schlecht anfühlt, kann nicht echt/ wahr sein.
  • Ich bin, was ich fühle: Meine Gefühle definieren meine Identität.
  • Extrem hohe »Flexibilität«: Entscheidungen sind nur ein Zwischenstand, bis etwas Besseres kommt.

Nehmen wir das unvoreingenommen in den Blick, erscheinen die aktuellen Phänomene rund um Beziehung und Sexualität fast schon selbstverständlich:

  • Dating. Partnerfindung und Schlussmachen findet (auch) online statt.
  • Ehe und Kinder sind kein selbstverständlicher Wert und stellen keine Vorgaben dar.
  • Beziehungen halten so lange, wie sie sich gut anfühlen – dann werden sie hinterfragt und evtl. beendet. Der nächste Partner ist meist schnell gefunden.
  • Glorifizierung des Lust-Aspektes der Sexualität (Siegeszug der Pornografie, viele Sexualpartner, …)

Wenn diese Phänomene (auch zurecht) kritisiert und (auch zu scharf) bekämpft werden, ohne dahinter zu blicken, geschieht eine fatale Verwechslung:

Das Symptom (z.B. das Lust-Prinzip) wird zur Krankheit erklärt, während die dahinterliegende Not  (z.B. die Suche nach Glück) unbehandelt bleibt.

Schauen wir hinter die äußere Fassade: Was bewegt junge Menschen im Innersten? Welche Fragen bringen die Generation Z zu oben beschriebenen Reaktionen und inneren Antworten?

Die Generation Z hat Fragen. Ihr Leben ist ihnen nicht egal. Sie ist auf der Suche nach Orten, an denen sie Antworten findet. Foto Anna Vander Stel

Was bewegt die Gen Z?

Eine Umfrage unter 2.200 Teenagern in den USA deckt drei wesentliche Fragen auf, die im Kern auf die Sinnsuche junger Menschen heute hinweisen:

1.     Wer bin ich? (Identität)

2.     Wohin gehöre ich? (Heimat, Zugehörigkeit)

3.     Was kann ich bewirken? (Selbstwirksamkeit)

Jede dieser Fragen wird von Jugendlichen auch im Rahmen ihrer Sexualität beantwortet:

1.     Sexualität bestärkt und verunsichert Identität (z.B.: »Bin ich begehrt? Bin ich gewollt?«)

2.     Sexualität schafft Bindungen.

3.     Sexualität ist gestaltbar (»Ich kann Begehren auslösen.« bis hin zu »Ich kann Kinder zeugen.«)

Auf der Suche nach Informationen dazu blicken Jugendliche (meist in der Reihenfolge) von ihren Eltern, auf ihre Freunde, ihre Klassenkameraden, in ihre Gemeinde, zu Influencern, Filmen, Werbeplakaten, … kurz: In ein Umfeld, das wir Erwachsenen geprägt und (wissend oder unwissend) gefördert haben. Das kann durch aktive Unterstützung als auch durch passive Unterlassung geschehen sein.

Der Siegeszug der Pornografie im Netz wurde erst durch den massenhaften Konsum derselben schon vor der Generation Z möglich. Das Schweigen am Abendbrottisch auf die Frage »Wie kommt das Baby in Mamas Bauch?« führt dazu, dass Kinder lernen: Über Sexualität spricht man nicht. Dieses Informationsvakuum suchen Kinder und Jugendliche zu füllen und werden v.a. im Netz oder in ihren Peer-Groups fündig.

Das ist keine leichte Aufgabe, zumal Beifahrer der Pubertät wie Gleichgültigkeit, häufig wechselnde Emotionen und Abgrenzungstaktiken gegenüber Erwachsenen das Brückenbauen erschweren. Erfolge sind nicht vorprogrammiert und selten sofort sichtbar. Eine neue Fähigkeit Jugendlicher erschwert die Kommunikation enorm. Ich nenne sie: konsistente Inkonsistenz.

Konsistente Inkonsistenz
Eine beeindruckende kognitive Fähigkeit der Generation Z ist die scheinbare Inkonsistenz ihrer Werte. Ein 15-jähriger ist in der Lage, völlig verschiedene Positionen, die als völlig widersprüchlich (inkonsistent) gelten, gleichzeitig und symbiotisch (konsistent) als wahr und echt zu vertreten. Dies nur am Aussehen (High-Heels mit Nieten) und Musikgeschmack (HipHop und Klassik) festzumachen, greift zu kurz. Vielmehr gilt das auch für religiöse, ethische Werte – auch in Bezug auf Sexualität. Beispielhaft sind im Folgenden Sätze, die ich in der Jugendarbeit selbst zum Thema Sexualität gehört habe, gegenübergestellt. Dabei bedienen sich Jugendliche anscheinend zweier Techniken: Sie Glorifizieren und Verkürzen gleichzeitig:

Verkürzen Glorifizieren
Was ist guter Sex? »Guter Sex heißt viel Sex mit vielen unterschiedlichen Partnern« »Ohne Sex, kein Glück«
»Vielleicht ist der/ die Nächste noch besser/ macht mich glücklicher« »Sex ist das größte Glück«
»Zum Glücklichsein brauche ich guten Sex«
Wie wichtig ist Sex? »Sex ist wie Auto fahren – macht Spaß – keine große Sache.« »Deine Sexualität bestimmt deine Identität.«
Beziehung und Sexualität »Bis zur Ehe zu warten macht keinen Sinn.« »Von Beziehung erhoffe ich mir v.a. Treue«
»Wenn ich mich an niemanden binde, kann ich nicht verletzt werden.«
»Vielleicht finde ich ja nie jemanden – dann müsste ich ja immer auf Sex verzichten.«
Was beeinflusst meine Sicht auf Sex? »Nicht was andere sagen, sondern was sich für mich echt anfühlt, ist wichtig.« »Ohne Erfahrung (Sex, Porno, …) kannst du nicht mitreden und wirst nicht ernst genommen. Sex macht dich zum Experten...«
»Fragen stellen zeigt deine Unreife: man traut sich nicht zu fragen/zuzugeben, dass man etwas nicht kennt, nicht weiß, was es ist«
Enormer Durst nach Wissen über Sexualität (Suche im Internet, bei Freunden)

Von außen betrachtet muss es Jugendliche mit diesen sich teils widersprechenden Sätzen innerlich zerreißen. Innerlich sind Jugendliche ständig in Bewegung zwischen ihnen. Aber diese Eigenschaft »befreit« den Jugendlichen subjektiv von (kulturellen, gemeindlichen, familiären) Wertegrenzen, ohne die Gemeinschaft selbst zu verlassen.

Doch wie können Erwachsene mit der Gen Z in Kontakt kommen bzw. bleiben? - Basis der Kommunikation mit Jugendlichen sind nicht allgemeingültige Glaubenssätze, sondern die persönliche Verbundenheit mit ihnen.

Beziehungen haben immer Vorfahrt vor Werten.
Jugendliche brauchen Präsenz, keine Perfektion. Foto Artur Tumasjan

Was brauchen Jugendliche?

Wie groß uns der Graben zu Jugendlichen auch erscheint: Es ist unsere Aufgabe als Erwachsene Brücken zu bauen. »Ihr seid die Zukunft – eine andere haben wir nicht.« sagte mein Jugendleiter am Ende einer Freizeit. Das stimmt. Jugendliche sind die Erwachsenen der Zukunft. Aber wir sind die Erwachsenen von heute! An unserem Vorbild lernen sie.

Jugendliche brauchen keine Widerstandskampagne gegen ihre Werte. Sie brauchen Freisetzung und Begleitung für ihre Identität, ihre Zugehörigkeit und ihre Selbstwirksamkeit.

Drei Anstöße für alle Brückenbauer:

Sei »real«

Wir Menschen haben ein feines Gespür für Scheinheiligkeit und Fassaden. Jugendliche auch! Nicht umsonst sind Youtuber und Influencer gefragt wie nie, wenn es um Fragen der Sexualität und Partnerschaft geht. Dennoch geben Jugendliche mehrheitlich an, dass in der eigenen Familie ihre wichtigsten Ansprechpersonen sind.

Jugendliche sind dabei v.a. auf der Suche nach vertrauenswürdigen Menschen, von deren Erfahrungen sie lernen können. Perfektion und glatte Antworten sind hier nicht gefragt, sondern Transparenz und Ehrlichkeit – auch und vor allem im Offenlegen von selbst erlebten Problemen und Hindernissen. Das meint »real sein«. Die Geschichte des Vaters mit Pornografie und Masturbation hinterlässt mehr Spuren als der Apell, die Finger von Pornos zulassen. Lässt die Mutter ihre Tochter an den guten und schlechten Entscheidungen in ihren jungen Beziehungen teilhaben, ist das prägender, als dem Freund der Tochter ein Übernachtungsverbot im eigenen Haus auszusprechen.

Jugendliche brauchen Präsenz, keine Perfektion. – Gabriel Kießling
Lässt die Mutter ihre Tochter an den guten und schlechten Entscheidungen in ihren jungen Beziehungen teilhaben, ist das prägender, als dem Freund der Tochter ein Übernachtungsverbot im eigenen Haus auszusprechen. Foto: Joshua Sazon

Sei empathisch

Der amerikanische Unternehmensberater Simon Sinek schreibt: »Empathie bedeutet: Ich sorge mich um ein menschliches Wesen und nicht nur um seinen Output.« Bloße Apelle wie »Kein Sex vor der Ehe!« oder »Benutzt ein Kondom und werdet nicht schwanger!« verpuffen im weiten Raum der Stimmen, die auf Jugendliche einprasseln. Fragen wie »Du bist schwanger? Wie geht es dir damit? Was brauchst du?« oder »Ich sehe, du hast die 5. Freundin diesen Monat. Geht es dir gut? Wonach suchst du?« richten sich dagegen an den Menschen. Empathie führt zu Präsenz. Ich bin ganz da und weder im Gestern (»Was hast du getan?«) noch im Morgen (»Wozu führen deine Handlungen?«). Jugendliche brauchen Präsenz, keine Perfektion. Sie verbinden sich am schnellsten mit Menschen, die Fehler machen. Denn je häufiger Jugendliche merken: Ich hab danebengehauen und darf wieder aufstehen – desto größer wird ihr Selbstvertrauen.

Fragen wie »Du bist schwanger? Wie geht es dir damit? Was brauchst du?« oder »Ich sehe, du hast die 5. Freundin diesen Monat. Geht es dir gut? Wonach suchst du?« richten sich dagegen an den Menschen. — Gabriel Kießling

Sei erwachsen

Es wird immer einen Unterschied zwischen den Generationen geben. Als Erwachsene haben wir rund um Sexualität nicht nur einen Wissens- sondern auch einen Erfahrungsvorsprung im Vergleich zur kommenden Generation. Den zu verneinen wäre töricht. Die Frage ist also, wie wir in der Begegnung mit Jugendlichen mit diesem Vorsprung umgehen. Wissen ist Macht. Wer etwas über Sexualität weiß, kann dieses Wissen nutzen, um Andere zu prägen. Das ist Aufgabe und Verantwortung Erwachsener zugleich. Dieser Aufgabe aus dem Weg zu gehen, ist mehr kindlich als erwachsen.

Jugendliche suchen nach Wissen – ob mit oder ohne uns. Daher mache ich unbedingt Mut: Überqueren wir als Eltern, Pädagogen, Leitende in der Jugendarbeit, … diesen gefühlten Graben zur nachfolgenden Generation. Es ist unsere Verantwortung.


[1] Vgl. Institut für Generationenforschung: https://www.generation-thinking.de

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