Selbstverletzendes Verhalten ist für viele schwer zu verstehen. Im Grunde bezeichnet es die absichtliche Beschädigung des eigenen Körpergewebes. Obwohl es oft mit dem Begriff »Ritzen« in Verbindung gebracht wird, umfasst Selbstverletzung auch Handlungen wie Kratzen, Verbrennen, schmerzhaftes Haareraufen, das Verschlucken giftiger Substanzen und Kopfschlagen.

Selbstverletzung ist nicht ausschließlich ein Problem von Jugendlichen, sondern betrifft Menschen jeden Alters, unabhängig von Geschlecht, Herkunft oder Gesellschaftsschicht. Allerdings stellt Selbstverletzung ein besonders großes Problem für Kinder und Jugendliche dar.

Menschen, die sich selbst verletzen, versuchen schmerzhafte negative Gedanken oder überwältigende Gefühle auf eine Weise zu kontrollieren oder zu bewältigen. Foto Francisco Gonzalez

Warum verletzen sich Kinder und Jugendliche selbst?

Für viele ist es schwer nachvollziehbar, warum sich jemand bewusst selbst Schmerzen zufügt. Wenn wir jedoch über die grundlegenden menschlichen Bedürfnisse nachdenken, ergibt es vielleicht etwas mehr Sinn. Wenn Menschen verletzt sind, suchen sie Wege, um ihr Leiden zu lindern. Menschen, die sich selbst verletzen, versuchen schmerzhafte negative Gedanken oder überwältigende Gefühle auf eine Weise zu kontrollieren oder zu bewältigen.

Bei Kindern, die sich selbst verletzen, überlagert der physische Schmerz oft den emotionalen Schmerz.

Wenn eine Person sich selbst verletzt, werden natürliche Chemikalien namens Endorphine freigesetzt, die dem Körper helfen, mit dem Schmerz umzugehen. Diese Endorphine erzeugen ein Hochgefühl, das den physischen Schmerz abmildern soll (man denke an ein »Läuferhoch«). Diese Endorphinausschüttung macht das selbstverletzende Verhalten zu einem gefährlichen Suchtfaktor. Wenn das Leben besonders herausfordernd für das Kind oder den Jugendlichen wird, greift dieser womöglich zurück auf das selbstverletzende Verhalten, um den emotionalen Schmerz zu lindern.

Wenn das Leben besonders herausfordernd für das Kind oder Jugendlichen wird, greift dieser womöglich zurück auf das selbstverletzende Verhalten, um den emotionalen Schmerz zu lindern. Foto unsplash+

Hier liegt das Problem bei der Selbstverletzung: Sie dient auch dazu, das Gefühl der Taubheit zu unterbrechen. Viele der von mir betreuten Kinder gaben an, dass ihnen das selbstverletzende Verhalten geholfen hat, »etwas zu fühlen, als nichts«. Ein Teenager erzählte mir unter Tränen: »Wenn ich mich ritze, fühle ich mich nicht so leer oder dunkel.«

Das Problem besteht jedoch darin, dass die Selbstverletzung eine sofortige (aber vorübergehende) Erleichterung bietet, ohne sich mit den eigentlichen Problemen auseinanderzusetzen, die zu dieser Form des Verhaltens geführt haben.

Wer verletzt sich selbst?

Selbstverletzendes Verhalten ist bei jüngeren Teenagern und Mädchen am weitesten verbreitet. Der stetige Anstieg hängt mit der erhöhten Prävalenz von Depressionen bei weiblichen Jugendlichen zusammen. Die Häufigkeit von Selbstverletzung variiert. Einige Kinder oder Jugendliche verletzen sich täglich, während andere über Wochen, Monate oder sogar Jahre hinweg ohne Zwischenfälle auskommen.

Obwohl Studien zeigen, dass Selbstverletzung nicht direkt mit Suizid in Verbindung steht, erregt es als Therapeutin sofort meine Aufmerksamkeit, wenn ich von einem Kind oder Jugendlichen höre, der sich selbst verletzt hat! Der Grund dafür ist folgender: Selbst wenn kein Suizid beabsichtigt ist, können die Emotionen, die das Kind während der Selbstverletzung erlebt, so stark sein und so süchtig machen, dass es zu weiteren, potenziell tödlichen Episoden kommen kann.

Selbst wenn kein Suizid beabsichtigt ist, können die Emotionen, die das Kind während der Selbstverletzung erlebt, so stark sein und so süchtig machen, dass es zu weiteren, potenziell tödlichen Episoden kommen kann. Foto Joshua Fuller

Wie kommt es dazu, dass ein Kind oder ein Jugendlicher sich selbst verletzt?

Selbstverletzendes Verhalten ist das Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels genetischer, biologischer, psychologischer und soziokultureller Faktoren. Oft höre ich von meinen Klienten, insbesondere von weiblichen Jugendlichen, dass Konflikte in Beziehungen (insbesondere mit Familienmitgliedern und/oder Partnern) häufig der Auslöser für den Drang zur Selbstverletzung sind.

Ereignisse wie Verlust, Trennung, Mobbing, Ablehnung sowie frühere Missbrauchserfahrungen oder Traumata können das Risiko für Selbstverletzung ebenfalls erhöhen.

Weitere Faktoren, die zur Selbstverletzung beitragen können, sind Perfektionismus, Schamgefühle, soziale Isolation, Impulsivität, Hoffnungslosigkeit und das Gefühl, eine Belastung zu sein.

Daher kann der Kontakt mit Gleichaltrigen oder Persönlichkeiten in den sozialen Medien, die sich selbst verletzen, einen starken Einfluss auf Kinder und Jugendliche haben, die bereits mit emotionalen Problemen zu kämpfen haben. Foto Christopher Ott

Das Besondere an der Selbstverletzung bei Jugendlichen ist, dass sie oft eine »ansteckende« Komponente hat. Daher kann der Kontakt mit Gleichaltrigen oder Persönlichkeiten in den sozialen Medien, die sich selbst verletzen, einen starken Einfluss auf Kinder und Jugendliche haben, die bereits mit emotionalen Problemen zu kämpfen haben.

Was können Eltern tun, um zu helfen?

  • Ermutige dein Kind dazu, seine Gefühle wahrzunehmen.
    Manche Kinder, die sich selbst verletzen, wachsen in einem Umfeld auf, in dem sie gehänselt oder abgelehnt werden, wenn sie starke Gefühle wie Schmerz oder Traurigkeit zum Ausdruck bringen. Aus diesem Grund können solche Kinder dazu neigen, sich selbst zu verletzen, um mit ihrem Kummer umzugehen, anstatt das Risiko einzugehen, dass ihre »negativen Gefühle« als ungültig erklärt oder unterdrückt werden. Kinder, die Schwierigkeiten haben, ihre Gefühle angemessen zu regulieren, sind anfälliger für Selbstverletzungen.
    Wenn dein Kind sich selbst verletzt, höre ihm aufmerksam zu und biete ihm Unterstützung an. Versuche, nicht überzureagieren. Suche nach Möglichkeiten, die emotionale Intelligenz deines Kindes zu fördern. Aus meiner Erfahrung können Kinder, wie auch Erwachsene, ihre Gefühle viel besser ausdrücken und bewältigen, wenn sie gelernt haben, diese zu erkennen und zu benennen. Zu Beginn fast jeder Sitzung verwende ich das Gefühlsrad mit meinen Klienten (Kindern und Erwachsenen). Dies kannst du auch mit deinem Kind verwenden.
  • Zeig Liebe und Fürsorge
    Interessanterweise ergab eine Studie aus dem Jahr 2012, dass Selbstkritik eng mit Selbstverletzungen verbunden ist. Der Zusammenhang bei anderen Verhaltensweisen wie Alkohol-, Drogenkonsum oder Essstörungen war nicht so stark ausgeprägt. Umgekehrt schützt eine starke Beziehung zu einem Elternteil vor Selbstverletzungen. Diese Erkenntnis ist so ermutigend. Es ist wichtig, Liebe zu zeigen und Hoffnung zu geben. Erinnere dein Kind daran, mit Gott über die überwältigenden Gefühle zu sprechen und zu vertrauen, dass er die notwendige Kraft und Ausdauer zur Bewältigung gibt. »Ladet alle eure Sorgen bei Gott ab, denn er sorgt für euch.« (1. Petrus 5,7).
Es ist wichtig, Liebe zu zeigen und Hoffnung zu geben. Erinnere dein Kind daran, mit Gott über die überwältigenden Gefühle zu sprechen und zu vertrauen, dass er die notwendige Kraft und Ausdauer zur Bewältigung gibt. Foto unsplash+

Wie du dein Kind ermutigen kannst

  • ​​Pflege enge Freundschaften und halten den Kontakt zur Familie.
  • Beschäftige dich mit gesunden Aktivitäten: Musik hören, joggen gehen, sich ausweinen oder ein Tagebuch führen.
  • Dankbarkeit ist eines der stärksten Gegenmittel gegen Traurigkeit und Verzweiflung.
  • Hol dir professionelle Unterstützung. Wenn du feststellst, dass dein Kind oder Teenager sich selbst verletzt, ist es wichtig, professionelle Unterstützung zu suchen. Es ist normal, dass dein Kind sich wehrt oder es vermeidet, darüber zu sprechen. Dennoch ist es ein entscheidender Schritt im Heilungsprozess, die Gedanken und Gefühle zu erforschen, die zu selbstverletzendem Verhalten führen. Abhängig von der Dauer, Häufigkeit und Schwere der Selbstverletzungen deines Kindes kann die Behandlung eine Kombination aus Psychotherapie und/oder medikamentösen Maßnahmen umfassen. Kognitive Verhaltenstherapie (CBT) und Dialektische Verhaltenstherapie (DBT) sind zwei wissenschaftlich fundierte Ansätze. Die Behandlungsmöglichkeiten können variieren, aber die effektivsten Behandlungsansätze konzentrieren sich darauf, die Ursachen für die Selbstverletzung zu verstehen und deiner Tochter oder deinem Sohn effektivere Bewältigungsstrategien für ihre oder seine Probleme aufzuzeigen.
Keep Cool Onlineberatung | IGNIS Akademie
Du arbeitest mit Jugendlichen und fragst dich, wie du Eltern unterstützen kannst?

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CHRIS Sorgentelefon | Christliches Sorgentelefon für Kids und Teens
Telefon: 0800 – 120 10 20. Wir haben ein offenes Ohr für dich! Das Sorgentelefon für Kinder und Jugendliche, Kids und Teens. Hast du Kummer oder Fragen zu Themen wie Freundschaft, Mobbing, Trennung der Eltern, Streit wegen Noten, Ritzen, Magersucht, Drogen oder Selbstmord.
Dieser Artikel wurde von Dr. Chinwé Williams verfasst und zuerst von Parent Cue veröffentlicht. Deutsche Version von Esther Penner.

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